- Pauperismus: Ausbeutung und Massenelend
- Pauperismus: Ausbeutung und MassenelendMit der Durchsetzung des Fabriksystems in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien verlagerte sich die Arbeit zunehmend vom Lande in die Stadt. So war im Jahr 1851 nur jeder zweite Einwohner von Manchester, Glasgow oder Liverpool auch dort geboren. Die Zusammenballung der Bevölkerung in den Städten, ein Prozess, der sich durch das ganze 19. Jahrhundert zog, führte zu katastrophalen, gesundheitsschädlichen Wohnverhältnissen. Die Sterberaten lagen in den Städten Englands im Jahr 1851 erheblich über dem Landesdurchschnitt.Verschlimmert wurden diese Verhältnisse durch das allgemeine Überangebot an Arbeitskräften in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Bevölkerung in Europa in bisher nicht bekanntem Maße zunahm. Die Einwohnerschaft Großbritanniens verdoppelte sich von 1800 bis 1850. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte annähernd eine weitere Verdoppelung. Wegen des starken Überangebots an Arbeitskräften konnten die Arbeitgeber die Löhne auf ein Minimum senken. Unter diesen Verhältnissen war aber kein Familienvater in der Lage, mit seinem Arbeitslohn eine Familie zu ernähren. Die Mitarbeit von Frauen und Kindern in der Fabrik war daher unerlässlich. Sie drückte aber ihrerseits — da noch geringer entlohnt — auf die Löhne der männlichen Fabrikarbeiter, ein Teufelskreis.Auch in Deutschland war die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Zeit ausgeprägter Massenarmut. Es gab ein starkes Anwachsen der ländlichen Bevölkerung, Unterbeschäftigung, sinkende Einkommen und beispiellos lange Arbeitszeiten. Erst die Industrialisierung seit der Jahrhundertmitte konnte mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze diese Tendenz wenden.Kinder- und Frauenarbeit in DeutschlandIn Deutschland denkt man im Zusammenhang mit den sozialen Problemen der Frühindustrialisierung zuerst an die Not der schlesischen Weber, die sich 1844 in den Weberdörfern Peterswaldau und Langenbielau aus Hunger und Verzweiflung erhoben, deren Aufstand aber von preußischem Militär blutig niedergeschlagen wurde. Für seine 16-stündige Arbeit unter Mithilfe von Frau und Kindern erhielt ein schlesischer Weber nur etwa 2 bis 3 Silbergroschen ausbezahlt, und so starben Tausende von Erwachsenen und Kindern in der Folge an Hungertyphus.In anderen Gewerbegegenden sah es nicht viel anders aus. Der aus einer reichen Fabrikantenfamilie Barmens stammende spätere Mitstreiter von Karl Marx, Friedrich Engels, der die Verhältnisse in Elberfeld und Barmen aus eigener Anschauung kannte, schrieb über die dortigen Weber, dass unter ihnen Brustkrankheiten, Schwindsucht und Syphilis in Furcht erregender Weise verbreitet seien. Von 2500 schulpflichtigen Kindern in Elberfeld ließe man fast die Hälfte in Fabriken wohnen, essen und schlafen, sodass sie keinerlei Schulunterricht bekämen. Die Ergebnisse, die eine 1824 vom preußischen Kultusminister Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein veranlasste Erhebung über die Kinderarbeit brachte, sprachen eine beredte Sprache. »Nachtarbeit der Kinder«, so heißt es in dem Bericht, »und bei Tage eine ununterbrochene Arbeitszeit von 6 Uhr früh bis 8 Uhr abends.« Es war die Sorge um gesunde Rekruten für die Armee, die schließlich 1839 zur ersten Arbeiterschutzmaßnahme in Deutschland führte. Es hatte sich nämlich seit längerem herausgestellt, dass die Fabrikgegenden wegen des schlechten Gesundheitszustands der Jugendlichen nicht ihr vollständiges Kontingent für die Armee stellen konnten. In einem Regulativ über Kinderarbeit wurde daher bestimmt, dass Kinder in Fabriken und Bergwerken nur regelmäßig beschäftigt werden sollten, wenn sie älter als 9 Jahre waren. Sonn- und Feiertags- sowie Nachtarbeit wurde ganz verboten und der Arbeitstag auf 10 Stunden begrenzt. In der Praxis konnte das Gesetz jedoch unterlaufen werden, da es keine staatliche Fabrikaufsicht gab.Massenelend in EnglandIn England waren die sozialen Verhältnisse in den 1830er- und 40er-Jahren am schlechtesten. Das waren die Jahre, in denen Karl Marx und Friedrich Engels das Material für ihre sozialrevolutionären Vorstellungen sammelten. Es macht allerdings wenig Sinn, die katastrophalen sozialen Zustände jenes »dunklen Zeitalters« allein von einem späteren Zeitpunkt aus zu bewerten oder schlicht der Industrie als solcher anzulasten. Man sollte sich vielmehr daran erinnern, dass im Jahr 1688, also in vorindustrieller Zeit, nach den zuverlässigen Angaben von Gregory King die halbe englische Nation aus Armen bestanden hatte, die auf Unterstützung angewiesen waren.In England gab es um 1850 die zahlenmäßig stärkste Arbeiterklasse, die etwa ein Viertel der Bevölkerung umfasste. Die Lebensverhältnisse waren sehr unterschiedlich. Eine Sondergruppe bildete die »industrielle Reservearmee« der 750000 nach England, Wales und Schottland eingewanderten Iren, die alle harten Arbeiten für ein minimales Entgelt ausführten. An der Spitze der Arbeiterhierarchie standen die Facharbeiter im Maschinenbau; sie verdienten 5 bis 6 Schilling pro Tag. Es folgte die große Masse der übrigen Fabrikarbeiter, deren Arbeitszeit um 1850 zwischen 15 und 16 Stunden schwankte. Die Verdienstmöglichkeiten in der Baumwollindustrie, in der überwiegend Frauen und Kinder beschäftigt waren, betrugen nur 2 bis 4 Schilling. Am schlechtesten bezahlt aber waren die Heimarbeiter und Hilfsarbeiter, die die Eisenbahnen bauten oder in den Großstädten Erdarbeiten verrichteten.In dieser Zeit des rapiden Städtewachstums in England wurde bei den Städteerweiterungen keinerlei Rücksicht auf Hygiene genommen. Es gab weder sauberes Trinkwasser noch eine Kanalisation. Müllhaufen und Kloaken prägten das Gesicht der Industriestädte.Die Lage der Arbeiter in FrankreichIn Frankreich waren die Verhältnisse um 1850 in mancherlei Hinsicht verschieden von denen in England oder in Deutschland. Auch nach der Bedeutungszunahme der großen Industriezentren unter Napoleon III. blieb die französische Industrie, vor allem die Textilindustrie, über weite Teile des Landes verstreut. Die Betriebe waren mit durchschnittlich weniger als fünf Arbeitern sehr klein, und der Produktionsprozess war insgesamt noch wenig mechanisiert.Mit einem Tageslohn von 5 Francs verdiente ein französischer Kunsthandwerker um 1850 zwar weniger als ein englischer Facharbeiter, aber erheblich mehr als die meisten französischen Arbeiter. Die meisten Fabrikarbeiter verdienten nur 1 bis 1,5 Francs. Abhängigkeit und das Risiko der Arbeitslosigkeit prägten die Situation vieler Arbeiter. Während der Wirtschaftskrise von 1857 wurde die Hälfte aller französischen Arbeiter zeitweilig arbeitslos. Schnellten bei Missernten die Lebensmittelpreise in die Höhe, war die Existenz des Arbeiters gefährdet.Die Zahl der französischen Landarbeiter, die bereit waren, in die Industrie abzuwandern, war im Vergleich zu England und Deutschland erheblich niedriger. Sie zeigten nur wenig Neigung, außerhalb ihrer Heimatdepartements im Bergbau oder in der Schwerindustrie zu arbeiten. Insbesondere im Hoch- und Tiefbau mussten daher ausländische, in erster Linie osteuropäische, aber auch spanische, belgische, italienische und marokkanische Arbeiter beschäftigt werden. Die Konkurrenz dieser anspruchslosen Arbeiter verschlechterte zeitweilig die Arbeitsbedingungen für französische Arbeiter erheblich.Die soziale Lage in Russland und JapanAm geringsten waren die Löhne in Russland. Die dortige zahlenmäßig noch recht kleine und auf wenige Industriezentren beschränkte Arbeiterschaft erhielt bei Arbeitszeiten zwischen 11 und 15 Stunden einen durchschnittlichen Jahreslohn von 200 Rubeln. Da die Not leidenden Bauern gezwungen waren, zu fast allen Bedingungen zusätzliche Arbeit zu suchen, waren sie der Willkür der Unternehmer ausgeliefert. Mit dem Durchbruch der Industrialisierung in den 1890er-Jahren in Russland war es üblich, dass der vom Lande stammende Fabrikarbeiter entweder Saisonarbeiter war oder aber für ein paar Jahre zum Geldverdienen in die Stadt ging, um danach wieder in die Dorfgemeinschaft zurückzukehren und sich auf seinen Landanteil zurückzuziehen. Kinder und Verwandte übernahmen seinen Arbeitsplatz in der Stadt. Das Dorf ersetzte auf diese Weise eine Armengesetzgebung oder Altersversorgung nach westlichem Muster.Wenn es auch in Russland lange Arbeitszeiten und eine ausgeprägte Frauenarbeit gab, so war dies nicht in erster Linie ein Zeichen für eine schlechtere soziale Stellung des russischen gegenüber dem westeuropäischen Arbeiter, sondern Ausdruck der Fortdauer ländlich-familiärer Verhältnisse auch in der Industrie. Eine Sozialpolitik setzte in Russland in den 1880er-Jahren mit der Beschränkung der Kinderarbeit für Kinder zwischen 12 und 15 Jahren auf 8 Stunden und dem Arbeitsverbot für jüngere ein. Der große Streik von 1896/97 erzwang erstmals die Verkürzung der Arbeitszeit auf 11,5 Stunden. Seit 1912 gab es unter dem Druck des marxistischen Sozialismus eine Kranken- und Unfallversicherung.Der Lebensstandard der japanischen Arbeiter stieg bis zum Ersten Weltkrieg trotz einer großen Produktions- und Exportsteigerung und einer Vermehrung des Volksvermögens um 25 Prozent von 1905 bis 1913 nicht an, da Japans Bevölkerung im gleichen Zeitraum zu stark wuchs. In den größeren Städten dürfte der Lebensstandard sogar noch gesunken sein.Verbesserung der Lebensumstände Ende des 19. JahrhundertsIn der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich die materielle Lage der Industriearbeiterschaft allmählich zu bessern, sodass Karl Marx über die Verbürgerlichungstendenzen einer Arbeiteraristokratie spotten konnte. Um 1880 aßen manche englischen Arbeiter Weißbrot und tranken Tee, Kaffee und Schokolade. In den dreißig Jahren seit 1850 war es zu einem deutlichen Rückgang der Kinderarbeit gekommen, da kompliziertere Maschinen und Produktionstechniken in zunehmenden Maße Fachkräfte erforderten. Ebenso hatte sich die Arbeitszeit merklich verkürzt: Um 1870 betrug die effektive Arbeitszeit in der englischen Textilindustrie 10,5 Stunden am Tag und 60 Stunden wöchentlich bei freiem Samstagnachmittag. Um 1880 betrug die tägliche Arbeitszeit oft 10, manchmal auch nur 9 Stunden. Möglich geworden war diese Arbeitszeitverkürzung durch die gestiegene Produktivität der Arbeiter.Die Verbesserung der sozialen Lage in WesteuropaVor allem die Löhne der Facharbeiter, die um 1870 etwa 30 Prozent der englischen Arbeiterklasse stellten, stiegen zwischen 1850 und 1865 real um etwa 15 Prozent an, während die Löhne für die meisten übrigen Arbeiter kaum stärker stiegen als die Lebenshaltungskosten. Nach 1865 allerdings kam es in England zu einem allgemeinen Anstieg der Reallöhne, die 1880 um etwa 10 Prozent höher lagen als 1850. Zwischen 1880 und 1914 stiegen die Geldlöhne in England um ein Drittel, im gesamten Zeitraum 1850 bis 1914 verdoppelten sie sich annähernd. Da die Preise von 1874 bis 1900 rückläufig waren, kann man davon ausgehen, dass die Reallöhne sich von 1860 bis 1900 um etwa 60 Prozent verbesserten.Dennoch kam Charles Booth in seiner Untersuchung über Leben und Arbeit in London aus dem Jahre 1889 zu dem Urteil, dass 30 Prozent der Londoner Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Noch schockierender war die Erkenntnis, dass neben den 30 Prozent Armen weitere 22 Prozent gerade genug verdienten, um in normalen Zeiten über die Runden zu kommen, aber keine Vorsorge für Alter, Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit treffen konnten.Ähnlich verlief auch die Entwicklung in Frankreich. Im Zweiten Kaiserreich wuchs der Reallohn nur geringfügig an. Nach 1870 führte vor allem das Sinken der Preise zu einer stärkeren Erhöhung der Realeinkommen. Insgesamt wuchsen die Reallöhne von 1850 bis 1880 um etwa ein Drittel. Diese relative Lohnexplosion gefährdete die Rentabilität der Industrie nicht, da gleichzeitig die anfangs äußerst schwache Arbeitsproduktivität erheblich angestiegen war. Die durchschnittliche Arbeitszeit betrug nach 1880 noch immer 10 bis 11 Stunden. Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz hatten sich gegenüber 1850 kaum verbessert, da jede gesetzliche Regelung fehlte. In den Fabrikzentren, die sich seit der Zeit Napoleons III. planlos entwickelt hatten, waren die Proletarier in verdreckten Vororten zusammengepfercht. Die Lage der französischen Arbeiter um 1880 war trotz deutlicher Verbesserungen gegenüber der Jahrhundertmitte gedrückter und beengter als jene der englischen oder deutschen Kollegen; das Lebensgefühl blieb stärker von Bitterkeit geprägt.Die Entwicklung in DeutschlandIn Deutschland ließ die in den 1850er-Jahren zum Durchbruch kommende Industrialisierung das Fabrikproletariat schnell anwachsen. 1880 gab es 5, 1900 dann sogar 8 Millionen Fabrikarbeiter, die sich hauptsächlich auf wenige Industrieregionen konzentrierten: Berlin, das rheinische Preußen von Düsseldorf bis Köln mit dem Ruhrgebiet, Schlesien, Westfalen, Sachsen, Aachen. In diese Industrieregionen waren die Menschen in großer Zahl aus den agrarischen Gebieten des Ostens eingewandert. Im Unterschied zu Frankreich, wo die Arbeiter häufig mit dem Land ihrer Vorfahren verbunden blieben, waren diese Menschen weitgehend entwurzelt.Im Zeitraum 1850 bis 1860 betrug die tägliche Arbeitszeit in den Fabriken 16 Stunden. Die Arbeiterschaft setzte sich zusammen aus Kleinbauern, die ihr Land aufgegeben hatten, ruinierten Handwerkern, Frauen und auch Kindern unter 14 Jahren, die 10 Prozent aller Arbeitskräfte stellten. Der Arbeitstag betrug zwischen 1860 und 1870 noch 12 bis 13 Stunden, in den Achtzigerjahren nur noch 10 Stunden. Die für die damalige Zeit einzigartige Bismarck'sche Sozialgesetzgebung bot den Arbeitern einen gewissen Schutz gegen die Risiken Krankheit und Unfall. Mit Ausnahme Berlins wurden auch die Wohnverhältnisse besser. Man kann davon ausgehen, dass sich die Reallöhne der deutschen Arbeiterschaft um 1890 gegenüber denjenigen der 1820er-Jahre in etwa verdoppelt hatten. Das war angesichts des starken Bevölkerungsanstiegs im 19. Jahrhundert ein beachtliches Ergebnis. Dennoch waren die materiellen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft auch um 1890 noch keineswegs günstig oder gar komfortabel.Prof. Dr. Hans-Werner NiemannWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:soziale Frage: Ein Problem des 19. JahrhundertsArbeiterbewegung: Anfänge der ArbeiterbewegungGlaser, Hermann: Industriekultur und Alltagsleben. Vom Biedermeier zur Postmoderne. Neuausgabe Frankfurt am Main 1994.Görtemaker, Manfred: Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien. Lizenzausgabe Bonn 41994.Quellen zur Geschichte der industriellen Revolution, herausgegeben von Wilhelm Treue u. a. Göttingen u. a. 21979.
Universal-Lexikon. 2012.